Närrische Betrachtungen,
in Mainzer Mundart,
vorgetragen in der Narrhalla und im Humoristischen Thierkreis.
Jetzt is die Narrheit recht im Trab,
Fast jeder trägt e Narrekapp';
Sind "Narrheit, Aenigkeit"
nor do,
Werd't unser Meenz
aach wider froh!
Ei 's war
d'r jo e wahre Qual!
Dann do bei dere
letzte Wahl
Hot m'r
geseh'n wahrhaft'g in Gott,
Wie sich die Stadt
verännert hot.
Das war d'r e Parteigezänk
M'r hot d'r krieht beinah
die Krenk,
Die Blätter
hawe sich geschennt,
M'r hot se fast nit mehr gekennt.
For
was dann den Parteiehader?
Deß leiht nit in d'r
Meenzer Ader,
Beim Carneval do
sieht m'r 's ein,
Daß mir
zusamme Narre sein!
In Eintracht müsse mir uns rühre,
Um all die Plän aach auszuführe.
Dann's Stadthaus hegt, wie m'r entdeckte,
E neues Stockwerk voll
Projekte.
Do uff d'
Vilzbach d'raus, d' alte,1
Werd't manches sich jetzt neu gestalte,
Dann's kimmt eweg
die Ludwigsbahn,
Sie käft
vor'm Münsterthor sich an,
Der Steg
micht kän
Beschwerde mehr,
Die Holzgaß' werd e
Bische leer.2
Un Mancher werd do draus erfahre,
Daß
er dann weiter hot zu fahre!
Doch was
des Vertel do verliert,
Werd gleich vum
Annern prositirt.
Die Groß
Bläch gewinnt d'r sehr,
Do gibt's e Lag vor d' Verkehr,
Wann die
Brück' un Bahnhof sein
gebaut.3
Am
stille Peterseck werd's laut,
Do werd bis in die Nacht enein
En Trubel mit dem Fuhrwerk sein.
Jedoch
d' Schloßplatz thut äm läd,
Do werd
gestört manch' stille Fräd,
Do werd gestört manch' Liebespaar,
Das Owends
do so glücklich war.
Die Lieb' find't
bald kän Plätzche mehr
Vor
lauter Handel und Verkehr.
Die kann sich nor
im "Tagblatt" un dergleiche
Noch gewe
abgekürzte Liebeszeiche!
Das Neue drückt das
Alte fort,
Verändert werd
an jedem Ort,
Das leiht
schun so im Lauf der Welt.
Wie schön ist
doch das neue Geld,4
Besonders so e Nickelstück,
Das is gehörig
groß und dick.
Das paßt for
unser heut'ge Zeit,
Wo immer mehr der
Schwindel steiht;
Es füllt 's Portemonnaie nur zum Schein
Es sieht viel aus, und steckt nix drein!
Verputzt jetzt Aener all sein
Moos,
Do kann m'r 'n häße
"nickellos".
Borgt Aener
Geld, so is gewiß,
Daß das en "Pumpernickel"
is!
Die Steuern wer'n, m'r kann's nit
lowe,
Jetzt aach in neuem Geld erhowe.
Die Steuern sein, m'r mag aach
krächze,
Die allerfruchtbarste Gewächse,
Do
gibt's kän unfruchtbares Jahr,
Sie
wachse immer wunnerbar!
Un that m'r früher sich gedulde,
Wann
sie verzehrte unsere Gulde,
Werd's jetzt
bei dem System erst stark,
Dann jetzt verzehrn se
unser Mark.
Das Geld soll äm doch nit
gereue,
M'r thut's jo dem Kulturkampf weihe,5
Der uns aach manches gute deut',
Zum Beispiel die "Freizügigkeit".6
Der Deutsche kann, ob arm, ob reich,
(Das häßt
is er kän Jesuit)
Jetzt zieh'n
herum im deutschen Reich,
Die Polizei verwehrt's ihm nit.
Drum
zieht aach jetzt mit vielem Ruhm
Die Demi-monde
so frei herum;
Dann geht m'r Owend's
mol spaziere,
Sieht m'r se strichweis promenire;
Das kimmt
von der Freizügigkeit
Un do d'ran sieht
m'r eminent,
Wie schön der Staat in uns'rer Zeit
Jedwedem
Mensch' die Freiheit gönnt!
Aach werd die Wissenschaft gepflegt
Mit Vorträg', allerwärts gehegt.
Erst neulich hot plaidirt mit Feuer
Herr Doktor Jürgen Bona Meier,7
Und wollt' bezweifeln hin und her,
Was wirklich "das
Gewisse" wär?
Nu das Gewisse! Gott wie heißt?
Braucht
m'r zu gehe in "Heiliggeist"?
Als
ob nit jeder Kaufmann wüßt,
Was in's Geschäft 's
Gewisse ist!
Wann m'r e gut Geschäftche
micht,
Wann m'r e hoch Prozent'che fischt,
un
wann m'r hot die fett'ste Bisse,
Do hot
m'r ebe des "Gewisse."
Doch
wann e Gründung plaide geht,
's Papier tief unter
pari steht.
Kän Aussicht uff e Dividende,
Do hot m'r
's Ungewisse in de Hände!
Geräth 'mol
ebbes in die Patsch,
Verführe
gleich die Leut en Klatsch,
Un's werd
e Lügerei vollführt,
Als
wär' so was noch nie passirt!
Dann denkt nor
an d's groß Geschrei
Mit dere
Rheinisch Brauerei;8
M'r hot gemänt, sie ging zu
Grund!
Is des e Wunner?
Liewer Gott;
's werd jo mancher nit gesund
Un wann
er aach en Doktor hot!
Doch nit alläns die Wissenschaft,
Die deutsche Sprach' werd aach gepflegt,
Des fremde Wort werd abgeschafft,
Die Post die hot's schun angeregt;9
Des Wort Couvert des werd verpönt,
'n
Umschlag werd des jetzt genennt,
Dodurch kann die Post mit Spiele
Mehr Umschlag allerwärts erziele.
Recommandirt häßt Einschreibsendung,
Postlagernd häßt's statt poste
restante.
Jetzt krieht
die Sprach erst die Vollendung,
Was Schiller, Goethe nicht verstanden!
Un geht's so fort in alle Zweige
Verdiene Sie
de höchste Dank!
Dann wer'n bei uns noch müsse weiche
Der "Rayon" sammt "Gouvernemang."
10
So geh'n aach die Geschäfte schlecht,
Der
Staat, die Stadt, die losse
baue
Un des is billig un gerecht
Dann des erhellt uns das Vertraue.
Die öffentliche Baute wer'n
Jetzt hergericht'
im Stil modern,
Zuerst hot m'r, wie
sich's gebührt,
All die Kaserne renovirt
Un 's Zeughaus hot en Anstrich krieht,
M'r sieht, daß do 's Geschäft noch blüht!
Am
neue Schulhaus, aach do drowe
Am Fürstenberg, do sein se dran
Seit Jahre schun un's is zu lowe,
Es is jetzt fertig -
uff
'm Plan!
Doch der Justizpalast is
scheen
Do freut's äm doch vorbei zu geh'n,
Der is jetzt gründlich
renovirt,
Un is gesäubert un verziert,
Das häßt,
was ausewendig is;
Vum
Innern wäß ich's nit gewiß.
Vorn an der Spitz, die alte Kunne,
Die hawe se eweg genumme,
Sie war'n verwittert auch die Alte,
Jetzt is mit neue
Reichsgestalte
Die Spitz vum Tribunal
verziert,
Daß äm die Schönheit fast
verführt;
Gerechtigkeit und
Milde
Sind da in schönem Bilde!
Doch wär'n aach viel
schöner noch,
Un säße sie nit gar so hoch,
Un thäte se aach
noch so freundlich lache,
M'r möcht' nit gern
Bekanntschaft mit en mache.
Doch weil ich jetzt am Tribunal grad bin,
Do kimmt
m'r was uff ämol in
de Sinn,
Es könnt doch hier un do Aen
was verdrieße,
D'rum will ich mein Betrachtunge jetzt schließe,
Dann letztes Jahr, do is passirt en Fall
Do könnt m'r lerne folgende
Moral:
Zu viel zu raissonire thut nit
gut,
Do krieht m'r än gehaue uff de Hut!
1 Vilzbach ist das Gebiet zwischen Winterhafen, Auf der Steig und Dagobertstraße in Mainz; benannt nach dem ehemaligen Dorf Vilzbach.
2 Die Bahntrasse durch Mainz wurde damals vom Rheinufer an ihren heutigen Verlauf verlegt; mit dem "Steg" ist ein ursprünglich geplanter großer Bahndamm gemeint, der die Stadt vom Rheinufer getrennt hätte.
3 Bei der Umführung der Eisenbahn musste auch ein neuer Bahnhof gebaut werden - der heutige Mainzer Hauptbahnhof. Zwischen Mainz und dem Vorort Kastel gab es nur eine Schiffbrücke; eine feste Straßenbrücke (die Vorläuferin der heutigen "Theodor-Heuß-Brücke") war bereits in Planung und sollte 1885 eröffnet werden.
4 Ende 1871 wurde die Mark das offizielle Zahlungsmittel im Kaisereich. Zum 1. Januar 1875 stellte das Großherzogtum Hessen vom Gulden auf die Mark um. An Münzen gab es Kupfermünzen zu 1 und 2 Pfennig, Kupfer-Nickelmünzen zu 5 und 10 Pfennig, Silbermünzen von 20 Pfennig bis 5 Mark, ein 10-Markstück mit dem Namen "Krone" sowie eine halbe Krone (5 Mark) und eine "Doppelkrone" (20 Mark).
5 Der "Kulturkampf" war der Konflikt zwischen Bismarck und der katholischen Kirche zwischen 1871 und 1887. Durch die Einführung einer staatlichen Kontrolle über die Schulen und der außerkirchlichen Zivilehe sollte der Einfluss der Kirche zurückgedrängt werden; auch wurde der Jesuitenorden verboten.
6 Das Freizügigkeitsgesetz des Deutschen Bundes von 1867 wurde durch das Kaiserreich übernommen; es sprach jedem Deutschen das Recht zu, sich ungeachtet seines Glaubensbekenntnisses innerhalb des Reichsgebiets an jedem Ort aufzuhalten oder niederzulassen, Grundeigentum zu erwerben und ein Gewerbe auszuüben etc.
7 Jürgen Bona Meyer (1829-1897), Professor der Philosophie in Bonn; trat während des Kulturkampfes auf Seiten der Kirche hervor.
8 Die Rheinische Bierbrauerei AG ging 1874 in Mainz-Weisenau aus der 1840 gegründeten Moritz'schen Brauerei hervor; 1912 wurde die Rheinische Bierbrauerei von der Mainzer Aktien-Bierbrauerei (Mainzer Actien Bier) übernommen, welche wiederum 1983 durch die Frankfurter Binding-Brauerei geschluckt werden sollte.
9 Die Reichspost ersetzte im Jahr 1874 über 700 bis dato gebräuchliche französische Wörter durch deutsche Wörter.
10 Der "Rayon" war ein Streifen Geländes vor den Mainzer Festungswällen, das nicht bebaut werden durfte; das Gouvernement hatte die Militärhoheit über die Festungsstadt inne.
In: Moguntia Nr. 16, II. Jg., vom 17. Januar 1875. Unterhaltungsblatt zum Neuen Mainzer Anzeiger