Theodor Eichberger (1835-1917)


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Närrische Betrachtungen,

in Mainzer Mundart,

vorgetragen in der Narrhalla und im Humoristischen Thierkreis.

Jetzt is die Narrheit recht im Trab,
Fast jeder trägt e Narrekapp';
Sind "Narrheit, Aenigkeit" nor do,
Werd't unser Meenz aach wider froh!
Ei 's war d'r jo e wahre Qual!
Dann do bei dere letzte Wahl
Hot m'r geseh'n wahrhaft'g in Gott,
Wie sich die Stadt verännert hot.
Das war d'r e Parteigezänk
M'r hot d'r krieht beinah die Krenk,
Die Blätter hawe sich geschennt,
M'r hot se fast nit mehr gekennt.
For was dann den Parteiehader?
Deß leiht nit in d'r Meenzer Ader,
Beim Carneval do sieht m'r 's ein,
Daß mir zusamme Narre sein!

In Eintracht müsse mir uns rühre,
Um all die Plän aach auszuführe.
Dann's Stadthaus hegt, wie m'r entdeckte,
E neues Stockwerk voll Projekte.
Do uff d' Vilzbach d'raus, d' alte,1
Werd't manches sich jetzt neu gestalte,
Dann's kimmt eweg die Ludwigsbahn,
Sie käft vor'm Münsterthor sich an,
Der Steg micht kän Beschwerde mehr,
Die Holzgaß' werd e Bische leer.2
Un Mancher werd do draus erfahre,
Daß er dann weiter hot zu fahre!
Doch was des Vertel do verliert,
Werd gleich vum Annern prositirt.
Die Groß Bläch gewinnt d'r sehr,
Do gibt's e Lag vor d' Verkehr,
Wann die Brück' un Bahnhof sein gebaut.3
Am stille Peterseck werd's laut,
Do werd bis in die Nacht enein
En Trubel mit dem Fuhrwerk sein.
Jedoch d' Schloßplatz thut äm läd,
Do werd gestört manch' stille Fräd,
Do werd gestört manch' Liebespaar,
Das Owends do so glücklich war.
Die Lieb' find't bald kän Plätzche mehr
Vor lauter Handel und Verkehr.
Die kann sich nor im "Tagblatt" un dergleiche
Noch gewe abgekürzte Liebeszeiche!

Das Neue drückt das Alte fort,
Verändert werd an jedem Ort,
Das leiht schun so im Lauf der Welt.
Wie schön ist doch das neue Geld,4
Besonders so e Nickelstück,
Das is gehörig groß und dick.
Das paßt for unser heut'ge Zeit,
Wo immer mehr der Schwindel steiht;
Es füllt 's Portemonnaie nur zum Schein
Es sieht viel aus, und steckt nix drein!
Verputzt jetzt Aener all sein Moos,
Do kann m'r 'n häße "nickellos".
Borgt Aener Geld, so is gewiß,
Daß das en "Pumpernickel" is!
Die Steuern wer'n, m'r kann's nit lowe,
Jetzt aach in neuem Geld erhowe.
Die Steuern sein, m'r mag aach krächze,
Die allerfruchtbarste Gewächse,
Do gibt's kän unfruchtbares Jahr,
Sie wachse immer wunnerbar!
Un that m'r früher sich gedulde,
Wann sie verzehrte unsere Gulde,
Werd's jetzt bei dem System erst stark,
Dann jetzt verzehrn se unser Mark.

Das Geld soll äm doch nit gereue,
M'r thut's jo dem Kulturkampf weihe,5
Der uns aach manches gute deut',
Zum Beispiel die "Freizügigkeit".6
Der Deutsche kann, ob arm, ob reich,
(Das häßt is er kän Jesuit)
Jetzt zieh'n herum im deutschen Reich,
Die Polizei verwehrt's ihm nit.
Drum zieht aach jetzt mit vielem Ruhm
Die Demi-monde so frei herum;
Dann geht m'r Owend's mol spaziere,
Sieht m'r se strichweis promenire;
Das kimmt von der Freizügigkeit
Un do d'ran sieht m'r eminent,
Wie schön der Staat in uns'rer Zeit
Jedwedem Mensch' die Freiheit gönnt!

Aach werd die Wissenschaft gepflegt
Mit Vorträg', allerwärts gehegt.
Erst neulich hot plaidirt mit Feuer
Herr Doktor Jürgen Bona Meier,7
Und wollt' bezweifeln hin und her,
Was wirklich "das Gewisse" wär?
Nu das Gewisse! Gott wie heißt?
Braucht m'r zu gehe in "Heiliggeist"?
Als ob nit jeder Kaufmann wüßt,
Was in's Geschäft 's Gewisse ist!
Wann m'r e gut Geschäftche micht,
Wann m'r e hoch Prozent'che fischt,
un wann m'r hot die fett'ste Bisse,
Do hot m'r ebe des "Gewisse."
Doch wann e Gründung plaide geht,
's Papier tief unter pari steht.
Kän Aussicht uff e Dividende,
Do hot m'r 's Ungewisse in de Hände!
Geräth 'mol ebbes in die Patsch,
Verführe gleich die Leut en Klatsch,
Un's werd e Lügerei vollführt,
Als wär' so was noch nie passirt!
Dann denkt nor an d's groß Geschrei
Mit dere Rheinisch Brauerei;8
M'r hot gemänt, sie ging zu Grund!
Is des e Wunner? Liewer Gott;
's werd jo mancher nit gesund
Un wann er aach en Doktor hot!

Doch nit alläns die Wissenschaft,
Die deutsche Sprach' werd aach gepflegt,
Des fremde Wort werd abgeschafft,
Die Post die hot's schun angeregt;9
Des Wort Couvert des werd verpönt,
'n Umschlag werd des jetzt genennt,
Dodurch kann die Post mit Spiele
Mehr Umschlag allerwärts erziele.
Recommandirt häßt Einschreibsendung,
Postlagernd häßt's statt poste restante.
Jetzt krieht die Sprach erst die Vollendung,
Was Schiller, Goethe nicht verstanden!
Un geht's so fort in alle Zweige
Verdiene Sie de höchste Dank!
Dann wer'n bei uns noch müsse weiche
Der "Rayon" sammt "Gouvernemang." 10

So geh'n aach die Geschäfte schlecht,
Der Staat, die Stadt, die losse baue
Un des is billig un gerecht
Dann des erhellt uns das Vertraue.
Die öffentliche Baute wer'n
Jetzt hergericht' im Stil modern,
Zuerst hot m'r, wie sich's gebührt,
All die Kaserne renovirt
Un 's Zeughaus hot en Anstrich krieht,
M'r sieht, daß do 's Geschäft noch blüht!
Am neue Schulhaus, aach do drowe
Am Fürstenberg, do sein se dran
Seit Jahre schun un's is zu lowe,
Es is jetzt fertig - uff 'm Plan!
Doch der Justizpalast is scheen
Do freut's äm doch vorbei zu geh'n,
Der is jetzt gründlich renovirt,
Un is gesäubert un verziert,
Das häßt, was ausewendig is;
Vum Innern wäß ich's nit gewiß.
Vorn an der Spitz, die alte Kunne,
Die hawe se eweg genumme,
Sie war'n verwittert auch die Alte,
Jetzt is mit neue Reichsgestalte
Die Spitz vum Tribunal verziert,
Daß äm die Schönheit fast verführt;
Gerechtigkeit und Milde
Sind da in schönem Bilde!
Doch wär'n aach viel schöner noch,
Un säße sie nit gar so hoch,
Un thäte se aach noch so freundlich lache,
M'r möcht' nit gern Bekanntschaft mit en mache.
Doch weil ich jetzt am Tribunal grad bin,
Do kimmt m'r was uff ämol in de Sinn,
Es könnt doch hier un do Aen was verdrieße,
D'rum will ich mein Betrachtunge jetzt schließe,
Dann letztes Jahr, do is passirt en Fall
Do könnt m'r lerne folgende Moral:
Zu viel zu raissonire thut nit gut,
Do krieht m'r än gehaue uff de Hut!

1  Vilzbach ist das Gebiet zwischen Winterhafen, Auf der Steig und Dagobertstraße in Mainz; benannt nach dem ehemaligen Dorf Vilzbach.

2  Die Bahntrasse durch Mainz wurde damals vom Rheinufer an ihren heutigen Verlauf verlegt; mit dem "Steg" ist ein ursprünglich geplanter großer Bahndamm gemeint, der die Stadt vom Rheinufer getrennt hätte.

3  Bei der Umführung der Eisenbahn musste auch ein neuer Bahnhof gebaut werden - der heutige Mainzer Hauptbahnhof. Zwischen Mainz und dem Vorort Kastel gab es nur eine Schiffbrücke; eine feste Straßenbrücke (die Vorläuferin der heutigen "Theodor-Heuß-Brücke") war bereits in Planung und sollte 1885 eröffnet werden.

4  Ende 1871 wurde die Mark das offizielle Zahlungsmittel im Kaisereich. Zum 1. Januar 1875 stellte das Großherzogtum Hessen vom Gulden auf die Mark um. An Münzen gab es Kupfermünzen zu 1 und 2 Pfennig, Kupfer-Nickelmünzen zu 5 und 10 Pfennig, Silbermünzen von 20 Pfennig bis 5 Mark, ein 10-Markstück mit dem Namen "Krone" sowie eine halbe Krone (5 Mark) und eine "Doppelkrone" (20 Mark).

5  Der "Kulturkampf" war der Konflikt zwischen Bismarck und der katholischen Kirche zwischen 1871 und 1887. Durch die Einführung einer staatlichen Kontrolle über die Schulen und der außerkirchlichen Zivilehe sollte der Einfluss der Kirche zurückgedrängt werden; auch wurde der Jesuitenorden verboten.

6  Das Freizügigkeitsgesetz des Deutschen Bundes von 1867 wurde durch das Kaiserreich übernommen; es sprach jedem Deutschen das Recht zu, sich ungeachtet seines Glaubensbekenntnisses innerhalb des Reichsgebiets an jedem Ort aufzuhalten oder niederzulassen, Grundeigentum zu erwerben und ein Gewerbe auszuüben etc.

7  Jürgen Bona Meyer (1829-1897), Professor der Philosophie in Bonn; trat während des Kulturkampfes auf Seiten der Kirche hervor.

8  Die Rheinische Bierbrauerei AG ging 1874 in Mainz-Weisenau aus der 1840 gegründeten Moritz'schen Brauerei hervor; 1912 wurde die Rheinische Bierbrauerei von der Mainzer Aktien-Bierbrauerei (Mainzer Actien Bier) übernommen, welche wiederum 1983 durch die Frankfurter Binding-Brauerei geschluckt werden sollte.

9  Die Reichspost ersetzte im Jahr 1874 über 700 bis dato gebräuchliche französische Wörter durch deutsche Wörter.

10 Der "Rayon" war ein Streifen Geländes vor den Mainzer Festungswällen, das nicht bebaut werden durfte; das Gouvernement hatte die Militärhoheit über die Festungsstadt inne.

Theodor Eichberger: Närrische Betrachtungen in Mainzer Mundart.
In: Moguntia Nr. 16, II. Jg., vom 17. Januar 1875. Unterhaltungsblatt zum Neuen Mainzer Anzeiger

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