Unsere Lyrik
in realistischer Bearbeitung.
Rühret nicht daran.
(Nach Emanuel Geibel.)
Wo stille ein Verhältnis blüht,
O rühret, rühret nicht daran!
Wofern der junge Mann reell
Hält um die Hand des Mädchens an.
Wenn etwas auf dem Erdenrund
Will delikat behandelt sein,
So
ist's ein Jüngling heutzutag,
Der ernstlich will ein Mädchen frei'n.
O gönnt den Zutritt ihm ins Haus,
Damit er euch nicht mehr entgeht!
Ihr
wißt ja, wie ihm angelweit
Manch' andre Thüre offen steht. -
Zuviel geredet hin und her,
Und mancher Freier wandte sich,
Und ging auf Nimmerwiederkehr.
Und manches Mädchen, hoffnungsvoll
In Lieb' und Heiratslust entflammt,,
Blieb
sitzen - ach du lieber Gott;
Zur alten Jungfer wars verdammt.
Da sprecht ihr wohl und klagt euch an;
Daß ihr gemäkelt allzu
laut;
Doch keine Reu' bringt den zurück,
Der einer andern angetraut.
Emanuel Geibel (1815-1884):
Rühret nicht daran
Wo still ein Herz voll Liebe glüht,
O rühret, rühret nicht daran!
Den
Gottesfunken löscht nicht aus!
Fürwahr, es ist nicht wohlgethan.
Wenn's irgend auf dem Erdenrund
Ein unentweihtes Plätzchen giebt,
So
ist's ein junges Menschenherz,
Das fromm zum erstenmale liebt.
O gönnet ihm den Frühlingstraum,
In dem's voll ros'ger Blüten
steht!
Ihr wißt nicht, welch ein Paradies
Mit diesem Traum verloren
geht.
Es brach schon manch ein starkes Herz,
Da man sein Lieben ihm
entriß,
Und manches duldend wandte sich,
Und ward voll Haß und
Finsterniß;
Und manches, das sich blutend schloß,
Schrie laut nach Luft in
seiner Noth,
Und warf sich in den Staub der Welt;
Der schöne Gott
in ihm war tot.
Dann weint ihr wohl und klagt euch an;
Doch keine Thräne heißer
Reu
Macht eine welke Rose blühn,
Erweckt ein todtes Herz auf's
neu.
In: Beilage der Mainzer Zeitung Nr. 110 vom 13. Mai 1883