Der Kuß
Sie fragte mich in einer schönen Stunde,
Indes ein Lächeln schwebt'
auf ihrem schönen Munde,
Ob meine Lippen wohl imstande wären,
Das
Wesen eines Kusses zu erklären?
Ich war, bisher gesprächig, still geworden,
Und sann vergebens
nach den rechten Worten,
Um ihr recht fein und zart in allen Stücken
Die
Eigenschaft des Kusses auszudrücken.
Sie sah mich an so hold und neckisch fragend,
Daß ich, an meiner
Wissenschaft verzagend,
Schon bittend ihre kleine Hand wollt' fassen,
Daß
sie die Antwort möge mir erlassen.
Sie aber ließ sich nicht dazu bewegen,
Denn einen Groll schien
ihre Stirn zu hegen,
Als wollte sie mir drohend schon verkünden:
Du
kannst nicht einmal diese Antwort finden!
Wie kaum ich wußte, was ich sollt' beginnen,
Da ward es plötzlich
hell in meinen Sinnen;
Damit sie ihn erforschen könne eben,
Hab
ich ihr selber einen Kuß gegeben.
In: Beilage der Mainzer Zeitung Nr. 67 vom 19. März 1882