Alte Geschichte.
Als kaum die Linde Knospen trieb,
Der Winter war verschwunden,
Da hatten sie in junger Lieb'
Darunter
sich gefunden.
Und als die Linde wunderbar
Ihr
duftig Laub gesponnen,
Da fühlten sie so rein uns wahr
Der Liebe
sel'ge Wonnen.
Doch als die Linde, dufterfüllt,
Mit Blüten sich that schmücken,
Da pochten ihre Herzen wild
In taumelndem Entzücken.
Und als der Linde Blättergrün
Fing
mächtig an zu blassen,
Sah drunter Sie mit düst'rem Sinn;
Er
hatte sie verlassen.
Und als des Winters Eis und Schnee
Hing über'm Lindenbaume,
Da that ihr Herz so bitterweh;
Es war
ihr wie im Traume.
Und als es wieder worden Mai
Und
Knospen trieb die Linde,
Trug man in einem Sarg vorbei
Die Mutter
mit dem Kinde.
In: Moguntia Nr. 32, II. Jg., vom 9. Mai 1875. Unterhaltungsblatt zum Neuen Mainzer Anzeiger