Die Thräne.
O Thräne
traut! von Gott gelegt
In unsrer Augen Schacht,
Du bist dem Herzen, tiefbewegt,
Was Luna's
Schein der Nacht:
Sei es mit Leid - mit Freud' erfüllt,
Als lautrer Himmelsbalsam quillt
Die
Thräne!
Wenn schneidend scharfer, wilder Schmerz -
Schmerz,
den kein Name nennt -
Das blutend kranke Menschenherz
So schrecklich quält und brennt:
Dann
kommt, wie Gold und Himmelblau,
Wie lindernd süßer Himmelsthau
Die Thräne!
Wenn in unendlich süßer Lust
Zwei Liebende
beglückt
In sel'ger Wonne Brust an Brust
Sich
lieben, hochentzückt:
So hat für dies Gefühl der Mund
Nicht Worte, reicher gibt es kund
Die
Thräne!
Wenn Hoffnung auf die ferne Zeit
Den Busen
sanft belebt;
Wenn Gram um schwervergang'nes Leid -
Erinnrung
uns umschwebt:
Dann spiegelt hell der Sehnsucht Bild,
Dann fließet für Vergang'nes mild
Die
Thräne!
Ein lächelnd Frauenangesicht
Mit Thränen
- o wie schön!
Wie Sonnenstrahl durch Wolken bricht,
So zaubrisch anzuseh'n.
Auf Rosenroth
und Lilienweiß
Rinnt über Lächeln, liebeheiß,
Die
Thräne!
O Thräne traut! von Gott gelegt
In unsrer
Augen Schacht,
Du bist dem Herzen, tiefbewegt,
Was
Luna's Schein der Nacht:
Sei es mit Leid - mit Freud' erfüllt,
Als lautrer Himmelsbalsam quillt
Die
Thräne!
In: Mainzer Anzeiger Nr. 277 vom 29. November 1855, S. 1083