Kein Leidgedicht
Durchstöbert man die Zeitung hin und her,Um irgend etwas Gutes aufzuspüren,
Man findet nichts, das sehr erfreulich wär'
Und werth, es humoristisch zu glossiren;
Was sie uns bringt mit jedem neu'n Bericht,
Taugt mehr zum Leid- als wie zum Leitgedicht -
Das paßt mir nicht!
In Indien ist schon wieder Hungersnoth,
Die unter Englands Szepter stets sich steigert,
Und Neunmalhunderttausend
schrei'n um Brod,
Dort wo der stolze Britte sich bereichert!
Das Elend freilich fällt nicht in's Gewicht,
Erglänzt die Macht nur in dem hellsten
Licht -
Das paßt mir nicht!
Italien's Räuber schalten froh und frei,
Sie stehen in Sizilien jetzt im Flore,
Wo sie sogar das Haus der Polizei
Keck sprengten in die Luft ganz
con amore! -
Wo's der Regierung selbst an Kraft gebricht,
Da
lachen ihr die Räuber in's Gesicht -
Das paßt mir nicht!
Wie anders in Berlin! wo jüngst sofort
Ein Mann als Dieb mußt im Gefängniß schwitzen,
Weil er an einem öffentlichen Ort
Es hat gewagt, zwei Uhren zu -
besitzen!
Die Polizei that mehr als ihre Pflicht;
Doch ist's
nicht gut, wenn man darüber spricht -
Das paßt mir nicht!
Der junge Sultan wackelt auf dem Thron,
Der ihm bisher gebracht so wenig Freude!
Er ist aus Stambul in der
Angst entfloh'n;
Vielleicht schafft sich auch er bald - auf die
Seite.
Doch leistet er auch auf den Thron Verzicht,
So ist gewiß
ein And'rer schon in Sicht -
Das paßt mir nicht!
Jetzt ist der zweite türk'sche Monitor
Durch russ'sche Hände in die Luft gesprungen.
Zwei Helden drangen
mit Torpedos vor,
Sie haben sicher Orden sich
errungen.
Wenn man dem "Ruhme" blut'ge Kränze flicht,
Dann gibt's ein Leid- statt einem
Leitgedicht -
Das paßt mir nicht!
In: Mainzer Schwewwel, II. Jg, Nr. 22 vom 3. Juni 1877